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Platz des europäischen Versprechens (2004-2015)

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Jochen Gerz (*1940)
2004-2015
Versprechen, Basalt, Licht

Das Projekt „Platz des europäischen Versprechens“ von Jochen Gerz ist der prämierte Wettbewerbsbeitrag der Stadt Bochum am Wettbewerb des Ministeriums für Bau und Verkehr NRW „Stadt macht Platz“ im Oktober 2005.

Im Frühjahr 2004 hatte ein interdisziplinäres Symposium stattgefunden. Ein Intendant, ein Architekt, ein Stadtbaurat, ein Philosoph, ein Medienwissenschaftler, eine Landschaftsplanerin, ein Pfarrer, eine Kunsthistorikerin, ein Umwelt-Psychologe und ein Künstler suchten nach einer Lösung für den Platz an der Christuskirche. Am Ende fragte Jochen Gerz: Kann man dem Platz eine Bedeutung geben? Nach insgesamt dreijähriger Projektentwicklung hat der Rat der Stadt im August 2007 beschlossen, den Platz des europäischen Versprechens zu realisieren.

Ausgangspunkt der künstlerischen Arbeit war die „Helden-Gedenkhalle“ von 1931 im erhaltenen Turm der Christuskirche mit den Namen von im Ersten Weltkrieg gefallenen Bochumern und einer Liste der ehemaligen „Feindstaaten Deutschlands“. Nicht nur europäische Staaten wie Frankreich, England, Italien, Portugal, Polen und die damalige Tschechoslowakei sind hier aufgelistet, sondern darüber hinaus viele andere außereuropäische Staaten.

Beiden Listen stellt Jochen Gerz auf dem Platz des europäischen Versprechens eine dritte gegenüber: Die Namen der Lebenden. Ihr Versprechen steht für die gemeinsame Zukunft der Menschen. Denn, so Gerz, „die Orte der Erinnerung sind Menschen, nicht Denkmäler.“

Jochen Gerz selbst erläuterte das Projekt im Januar 2007 so:

Was kann die Kultur? Sie macht aus Zukunft Gegenwart. Sie macht Zukunft als ein gemeinsames Versprechen erlebbar.

Zum ersten Mal habe ich mich beim Platz des europäischen Versprechens gefragt, was ich antworten würde, wenn ich einen Beitrag zur eigenen Arbeit leisten wollte. Was wäre meine Antwort? Was wäre mein europäisches Versprechen? Was tun? Die lapidare Antwort lautet: meinen Namen geben. Die lapidare Antwort heißt: den eigenen Namen hergeben, damit er in Stein gesetzt wird. Für jetzt und für morgen.
...
Jeder wird sich selbst nach seinem Beitrag fragen. Die Antworten bleiben geheim wie das Kreuz auf dem Wahlzettel, doch was zur Wahl steht, entscheidet jeder Teilnehmer selbst. Es geht nicht um „ja“ oder „nein“. Die Vielfalt der Antworten von hier, aber auch anderenorts als in Deutschland zeigt Europa nicht als die neue Heimat der Statistiken, sondern als die neue Heimat der Imagination. Wer die europäischen Versprechen lesen will, wird sie sich vorstellen müssen, wenn er die vielen Namen in Bochum liest, die den Platz des europäischen Versprechens füllen werden. Er wird die Versprechen nicht kaufen können, er wird sie nicht vor seinen politischen Karren spannen können, er wird sie sich eins nach dem anderen, wenn er die in den Boden gefrästen Namen in Bochum liest, vorstellen müssen. Er wird dann selbst zum Platz des europäischen Versprechens.

Im Februar 2007 wurde die Zahl der Namensplatten auf insgesamt 25 festgelegt. Der Vertrag der Stadt Bochum mit Jochen Gerz legte fest: Das Rohmaterial der Namensplatten, deren Bearbeitung sowie deren Einbau sind nicht Gegenstand des Vertrages, sondern werden gesondert durch die Stadt Bochum finanziert.

Genau hier liegt der Pferdefuß des Projektes: Die Kosten der Namensplatten wurden nicht kommuniziert, nicht kalkuliert, nicht finanziert. Zusätzlich machte der Nothaushalt ab 2009 einen Strich durch die Rechnung.

Zwischenzeitlich stand das Projekt ganz auf der Kippe, nachdem die Stadt Bochum die Verträge mit den Mitarbeitern im Projektbüro nicht verlängert und aus Kostengründen beschlossen hatte, für den Platz statt des ursprünglich geplanten Natursteinpflasters einfachen Splitt zu wählen.

Am 28.12.2009 musste der Kulturdezernent der Stadt Bochum, Michael Townsend im WDR eingestehen: „"Es fehlt das Geld für die Granitplatten, eine der Tafeln kostet rund 150.000 Euro. Die Materialität sprengt den finanziellen Rahmen“.

Erst nach dem Projektstart begann die Kostenkalkulation für die Namensplatten. Drei Kostenvoranschläge für unterschiedliche Materialien ergaben Summen von 3,6 Millionen Euro (Basaltstein) bis 12,5 Millionen Euro (Glas).

Die Suche nach Alternativen gestaltete sich schwierig. 1,80 x 3,80 m große Natursteinblöcke aus Basaltlava sind weltweit einzigartig und nur in einem Steinbruch in Armenien vorhanden. Durch Sponsoring des Steinproduzenten konnten die Kosten für die noch zu verlegenden 23 Namensplatten schließlich um etwa zwei Drittel auf 1,3 Millionen Euro gesenkt werden: etwa 56.000 Euro je Namensplatte, 100 Euro pro Name.

Die schließlich kalkulierten Gesamtkosten von teilen sich wie folgt auf:
Künstlerischer Prozess: 500.000 (unverändert seit 2006)
Städtebaulicher Anteil: 725.000 (Ratsbeschluss vom 6.11.2009)
Lichtkonzept: 200.000 Euro (finanziert durch die Stadtwerke Bochum)
Namensplatten: 1.658.000 Euro (mit Gravur und Verlegung)
Das Land NRW fördert das Projekt mit etwa 500.000 Euro, je zur Hälfte für den künstlerischen und für den städtebaulichen Teil. Der Eigenanteil der Stadt Bochum beläuft sich also auf etwa 2,1 Millionen Euro.
Das Geld für die ausstehenden 24 Namensplatten fehlt.

Seit 2007 wurden Menschen aus dem Ruhrgebiet und darüber hinaus eingeladen, ein persönliches Versprechen für Europa abzugeben. Das Versprechen selbst bleibt unveröffentlicht. Die Namen der 15.000 möglichen Beteiligten werden in 25 Basaltplatten eingelassen, die anschließend auf dem Platz des europäischen Versprechens verlegt werden.

Im Juni 2009 wurde die erste Namensplatte im Erdgeschoss des erhaltenen Turms der Christuskirche installiert. 600 Namen passen auf jede der restlichen 24 Basaltplatten aus Armenien (5,40 x 3,80 m), die verlegt werden sollen, sobald die Stadt über die erforderlichen Finanzmittel für deren Herstellung verfügt.

Am 12. Juli 2010, zu Beginn der Local Heroes Woche in Bochum, begannen die Bauarbeiten für den Platz des europäischen Versprechens. Der Höhenunterschied zwischen dem Straßenniveau und dem Turm der Christuskirche wurde durch geschwungene Stufen aus Basaltlava aufgefangen. Zwischen den Stufen entstanden Plateaus. Die Bäume auf dem Platz blieben erhalten.

Die Oberfläche des Platzes wurde aus Kostengründen abweichend vom ursprünglichen Entwurf in behandeltem Gussasphalt hergestellt. Die Umsetzung des Lichtkonzepts von „Les éclairagistes associés“ (Die Beleuchter, Laurent Fachard, Lyon), wurde durch die Stadtwerke Bochum finanziert.

Der Platz des europäischen Versprechens ist bis heute ein offen gebliebenes Versprechen. Jahre nach dem Projektstart verharrt der Platz im Zustand des Unvollendeten. Die gigantischen Steintafeln, die 14.726 Namen von Versprechenden öffentlich machen sollten, werden durch leere Platzhalter dargestellt. Am Gelde hängt doch alles. Es fehlen immer noch 1,3 Millionen Euro. Insofern ist der Platz ein ungewolltes Symbol für die europäische Schuldenkrise.

Auch im März 2013 stammt der neueste Eintrag in der Rubrik Aktuelles auf der Homepage des Projektes vom 12. Juli 2010. Der Rest ist Schweigen.

Im März 2013 wurde nach zähen Verhandlungen zwischen Künstler und Stadt ein möglicher Kompromiss vereinbart: Die Namen auf den Platten werden etwas verkleinert. Jetzt werden noch 19 Platten aus einem Basaltvorkommen im Hochgebirge Armeniens benötigt. Geplante Kosten: eine Million Euro, 20 % davon aus Eigenmitteln der Stadt, die eigentlich keinen Cent mehr ausgeben wollte.

Bis 2014 soll der Platz fertig sein. Der Rat muss noch zustimmen. Wenn der Beschluss erst im Juni kommt, kann es schon wieder zu spät sein. Der Sommer im armenischen Hochgebirge ist kurz.

Am Freitag, 11. Dezember 2015, wurde der Platz endgültig freigegeben. Elf Jahre dauerte der Prozess von der Idee bis zur Fertigstellung. Die Gesamtkosten betrugen 3,35 Millionen Euro, 1,575 Millionen Euro davon Eigenmittel der Stadt Bochum.

Offen bleibt die Frage, warum ein symbolisches Versprechen in unvergänglichen Stein gemeißelt werden muss. Dem Prozesscharakter des Projektes würde es eher entsprechen, wenn das symbolische Versprechen an einem symbolischen Ort „für die Ewigkeit“ repräsentiert würde. Das würde gleichzeitig die Fragilität menschlicher Versprechen angesichts der offenen Zukunft angemessen darstellen. Am Ende wirkt der Platz doch noch wie eine Heldengedenkstätte.

Jochen Gerz begann als Schriftsteller und war Auslandskorrespondent einer deutschen Presseagentur. Seine Heimatstadt ist Düsseldorf. Er studierte Germanistik, Anglistik und Sinologie in Köln, später Archäologie und Urgeschichte in Basel. Seine Projekte entstehen in der Regel aus einer längeren Vorbereitungsphase in Zusammenarbeit mit vielen Beteiligten. Ausgangspunkt sind oft Fragen an Funktionsträger oder Personen aus der Bevölkerung, die Anlass zur Reflexion von Grundbedingungen des gemeinsamen Lebens geben. Gerz will die Grenze zwischen Künstler und Betrachter aufheben indem er die Menschen in seine Arbeit einbezieht. Handeln statt Zuschauen.

1974 erregte Gerz durch „EXIT / Das Dachau Projekt“ Aufsehen. Mit der umstrittenen Installation kritisierte er die deutsche Erinnerungskultur. 1976 vertrat er Deutschland auf der Biennale in Venedig. 1977 wurde er zur documenta 6 eingeladen.

Bekannte Arbeiten im öffentlichen Raum von Jochen Gerz sind:
Mahnmal gegen Faschismus, Hamburg-Harburg, 1986, versenkte, beschriftete Säule.
2146 Steine - Mahnmal gegen Rassismus, Saarbrücken, 1993, Platz des Unsichtbaren Mahnmals.
2-3 Straßen. Eine Ausstellung in Städten des Ruhrgebiets, 2008-2011.

Standort:
An der Christuskirche
Willy-Brandt-Platz
44787 Bochum

Nachlesen:
Homepage: Platz des europäischen Versprechens
Wikipedia: Jochen Gerz: Platz des europäischen Versprechens
bo-alternativ: Platz des europäischen Versprechens (28.12.2010)
treulieb-steinmanufaktur: Gravur der Namensplatten
derWesten: Wenn jeder Name Geld kostet (22.1.2009)
derWesten: Neuer Anlauf (21.02.2011)
derWesten: Technischer Ausbau abgeschlossen (30.7.2011)
RuhrNachrichten: Namensplatten fehlen noch (30.7.2011)
RuhrNachrichten: Der Platz des europäischen Versprechens ist nur noch ungeliebtes Stiefkind (16.02.2013)
RuhrNachrichten: Seit acht Jahren ist der PeV ein Thema (15.03.2013)
RuhrNachrichten: Fertigstellung bis 2014. Einigung mit Gerz über Platz des Europäischen Versprechens (16.3.2013)
WAZ: Platz des europäischen Versprechens nimmt Form an (07.10.2015)
WAZ: Platz des europäischen Versprechens als besonderes Geschenk (09.12.2015)

Youtube: Jochen Gerz, Rufen bis zur Erschöpfung, 1972
Homepage: Projekt 2-3 Straßen
WDR: Jochen Gerz: Das Geschenk, Museum Ostwall, Dortmund
Virtuelles Museum Moderne NRW: Jochen Gerz
3sat: Jochen Gerz: Ein bewegtes Leben
Homepage Jochen Gerz (englisch)

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Chronologie 1973-2011

1973  Die letzte Zeche in Bochum wird stillgelegt (Hannover/Hannibal)

1973  Die erste Ölkrise gipfelt in Sonntagsfahrverboten.

1973  Es gibt einen Anwerbestopp für Gastarbeiter außerhalb der EG.

1974  Erste S-Bahnen fahren im Revier (S1, S3)

1976  Erste Tempo-30 Zone in Bochum auf Betreiben einer Bürgerinitiative.

1977  Terminal von Richard Serra auf der documenta 6 in Kassel. Von Bochum gekauft, 1979 aufgestellt.

1979  Ruhrstadion (Rewirpower-Stadion) eröffnet.

1979  Claus Peymann wird als Nachfolger von Peter Zadek für sieben Jahre Intendant in Bochum.

1980  Der Kemnader Stausee wird freigegeben.

1980  Der RVR veranstaltet den ersten „Tag des Radfahrens“ im Revier.

1983  Hausbesetzungen im Heusnerviertel gegen den Abriss für den Außenring.

1984  Das Album „4630 Bochum“ macht Herbert Grönemeyer (und Bochum) zum Star.

1986  Erstmals „Bochum Total“. Das Festival entwickelt sich zum größten kostenlosen Rock-Pop-Festival in Europa.

1988  Starlight Express startet in Bochum.

1989  Die U35 zwischen Herne und Bochum Hbf ist fertig. Länge: 10 km. Bauzeit: 20 Jahre. Kosten: 800 Mio. DM.

1993  Die „Unabsteigbaren“ vom Vfl Bochum müssen erstmals in die Zweite Liga. Der Vfl wird zur „Fahrstuhlmannschaft“.

1995  Das Deponie-Block-Heizkraftwerk an der Zentraldeponie Kornharpen geht ans Netz .

1999  Nach dreiundvierzig Jahren verliert die SPD in Bochum die absolute Mehrheit. Bochum wird rot-grün.

2002  RuhrCongress Bochum mit Renaissance Bochum Hotel fertiggestellt.

2002  Erste Ruhrtriennale (2002-2004) unter Gründungsintendant Gerard Mortier.

2003  Eröffnung der revitalisierten Jahrhunderthalle Bochum, ein Stück „Transformationsarchitektur“.

2004  Bochum ist seit 100 Jahren Großstadt.

2007  Einweihung der neuen Synagoge.

2008  Im Januar wird die Schließung des Nokia-Werks Bochum bekannt gegeben, es wird im Mai geschlossen.

2009  Opel steht auf der Kippe. 1500 von 6000 Arbeitsplätzen in Gefahr.

2010  Das Ruhrgebiet ist Kulturhauptstadt Europas.

2011  Die Stadt Bochum reißt ihre einzige Hajek-Plastik ab.

2011  Altmetalldiebe stehlen in Duisburg und Mülheim tonnenschwere Skulpturen.

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